Sommergeschichte von Elisabeth Binder

Sommergeschichte
Roman
ISBN/EAN: 9783608935493
Sprache: Deutsch
Umfang: 301 S.
Einband: gebundenes Buch
Auf Wunschliste
Für Christine, die Journalistin, kommt dieser Moment, in dem sie die farbige Besitzerin einer Nobelboutique in der Züricher Innenstadt zum erstenmal sieht, wie ein Blitzschlag. Dabei hatte sie sich nicht so schlecht eingerichtet in ihrem Leben, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat und allein mit ihrer kleinen Tochter in der Züricher Innenstadt lebt. Christine bemüht sich um die attraktive Somalierin, und es beginnt eine Geschichte, an deren Ende nichts ist wie vorher. Denn Joan, mit ihren undurchsichtigen Beziehungen zu schwarzen Immigrantenkreisen, führt ihre neue Geliebte auch in die bessere Schweizer Gesellschaft ein. Treffen im parkumsäumten Anwesen eines Arztes am Südufer des Bodensees geben Christine Anhaltspunkte für ihre eigene Herkunft, die sie bisher nicht kannte - und die mit der Flucht jüdischer Bürger über die deutschschweizerische Grenze während der NS-Zeit zusammenhängt. Diese Geschichte, die um ein Haar in einer Katastrophe endet, ist ein wunderbar geschriebener, spannungsgeladener Zeitroman - über folgenreiche Vergangenheiten und unseren Umgang mit dem Fremden.
Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der »Neuen Zürcher Zeitung«. Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman »Sommergeschichte«. Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.
Die Autorin dankt der Schweizer Kulturstiftung PRO HELVETIA und der UBS Kulturstiftung für einen Werkbeitrag. Erstes Kapitel Linea Donna 1 Eine Wolke verdeckte die Sonne. Kein Wölkchen, eine Wolke, groß und an den Rändern ausgefranst wie irgendein Fleck, ein Land auf der Landkarte. Und man wunderte sich, wo sie herkam, aus heiterem Himmel. Gerade hatte man noch aufgeatmet, glücklich, daß nach endlosen Regentagen, wo man schon beinah alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Sonne wieder die Regie übernahm, dem Hoch entsprechend, das von den Azoren heranrückte und das die Wettervorhersagen schon im Titel verkündeten zur allgemeinen Ermunterung: Der Sommer kehrt zurück! Noch eben hatte man die Wärme gefühlt, wo man ging und stand oder saß, am See, am Bellevue, am Pfauen, Paradeplatz oder Limmatquai, jetzt, um die Mittagszeit, hatte die Jacken ausgezogen und in die Sonne geblinzelt, die nun auf einmal wieder verschwunden war, so daß, wie nie sonst, alles, halb Zürich, gleichzeitig (und ein bißchen vorwurfsvoll) zum Himmel hochsah und zu der Wolke, welche die Order des Tages durchkreuzte. Wie gesagt, war es eine große Wolke, indessen, mindestens in dem Stück Himmel, das man überblickte, weit und breit die einzige. Ein Einzel- und Sonderfall, das hoffte man zumindest. Kurzes schattiges Zwischenspiel und gleich vorbei. Die Wolke aber, einmal derart ins Rampenlicht geraten, ließ sich Zeit. In dem kleinen Café an der Wühre (ein paar Tische, dicht an die niedrige Ufermauer gerückt, so daß man ohne allen Verkehr seelenruhig auf die Limmat schauen konnte, weshalb die sonst anspruchslose Einrichtung den etwas geschraubten Namen panta rhei trug) waren die meisten Plätze besetzt. Ich hatte mich schon vor einer halben Stunde dort niedergelassen, um ungestört eine Kleinigkeit zu essen und womöglich ein wenig zu mir selber zu kommen, ehe am Nachmittag die Zeitungsarbeit begann: ein Interview heute, zu dem ich nicht die leiseste Lust hatte. Nun saß ich noch immer allein an meinem Tisch. Gut so, sehr gut so. Äußerstenfalls würde ich einfach behaupten, daß ich auf jemanden warte und die zwei Plätze reserviert seien. Nicht in der glücklichsten Laune, wollte ich jetzt bloß in Ruhe gelassen sein. Ein Gedanke, der schon nichts Fruchtbares hervorgebracht hatte, als ihn noch die Sonne beschien, verkümmerte, so im Schatten, gerade ganz. »Es ist, wie es ist«, sagte eine Stimme, vermutlich der Vernunft, in mir und: »Man muß das Beste draus machen.« Eine Weisheit meiner Mutter. Immer sagte sie diesen Satz, diesen zum Verzweifeln pragmatischen. Patentrezept in allen Lebenslagen. Und vielleicht hatte sie ja recht. Wenn man nur gewußt hätte, was dieses Beste sei. Augenblicklich wußte ich es weniger denn je. In meinem Kopf war manchmal ein solches Durcheinander. Dann wieder eine solche Leere. Glühende, gierige Leere. Vielleicht auch nur Müdigkeit. Als ob es jetzt schon, mit dreiunddreißig Jahren, nur noch ein Älterwerden sei und sonst nichts. Ja, es gab Augenblicke, wo ich nicht einmal mehr sicher war, ob ich es so eilig gehabt hätte mit der Scheidung, und ob der andere Mann, dieser Künstlertyp, der mich kurzfristig angezogen und von dem ich mich längst wieder getrennt hatte, so attraktiv gewesen wäre, hätte damals schon in Aussicht gestanden, daß Martin diesen Job kriegte: die überraschend frei gewordene Stelle des Amerikakorrespondenten, mit der er immer geliebäugelt, aber nie ernsthaft gerechnet hatte. Der reine Glücksfall! Und ich dachte, daß ich vielleicht bei ihm geblieben wäre, hätte er nur einmal wirklich darum gebeten, mich nur einmal energisch zurückzuhalten versucht, verzweifelt oder auch einfach wütend, statt mich so großzügig, so sang- und klanglos ziehen zu lassen: »Wenn du meinst, daß es besser für dich ist.« Jetzt schrieb er manchmal, daß er uns beide vermisse dort drüben. Und er schickte öfter als am Anfang Karten. Extra verlockende vielleicht? Ich sah auf den Fluß, der, tief grün und ziemlich angeschwollen nach dem Regen, mit Wirbeln und Blasen und quirligen Nebenströmungen, aber doch insgesamt zielstrebig unter den dunklen Bogen der Helmhausbrücke hervor- und lautlos vorbeiglitt. Hier und da gab es kleine erfolglose Gegenbewegungen: kindliche Wellchen, die widerspenstig, vielleicht auch der hellen Weite des Sees, den Schwänen, Enten und Schiffen nachtrauernd, flußauf zu strudeln versuchten. Das Großmünster auf seinem Extrahügel betrachtete wie immer steif und ungerührt sein fahriges Spiegelbild. Ein Ausflugsboot, das schon vor einer halben Stunde an dem blau-weißen, venezianisch stilisierten Landungssteg dem Rathaus gegenüber gelegen hatte, Felix mit Namen, schob sich in diesem Moment von hinten ins Blickfeld und rauschte gemächlich seewärts. Ein Kind mit einem Schleckstengel im Mund winkte fröhlich all den am Ufer Sitzengebliebenen. Ich lächelte und winkte zurück. An meine kleine Flo dachte ich dabei gerade wieder mit stürmischer Zärtlichkeit. Die ich an dem Morgen so unbeherrscht angeschrien hatte. Einmal in Fahrt, hatte ich gar nicht mehr aufhören können zu schreien, so daß ich nachher fast eine Stunde brauchte, um die Schluchzende wieder zu beruhigen. Klar, der Anlaß war unschön und das zierliche samtblaue Biedermeiersofa, das einzige wirklich hübsche Möbelstück in unserer Wohnung, ein Erbstück meiner Großmutter und kostbar vor allem, weil es eine schöne Erinnerung einschloß, die schönste meiner Kindheit, wahrscheinlich definitiv verdorben, so kreuz und quer mit Filzstiften bearbeitet von der Kleinen, während ich selber, an meinem PC sitzend und einen Artikel für die Zeitung in aller Eile fertig redigierend, dem Frieden im Wohnzimmer viel zu lang getraut hatte. Nein, schön war das nicht (ein reiner Racheakt, weil ich keine Zeit für sie hatte, so klein war sie ja nicht mehr, daß sie nicht genau gewußt hätte, daß es absolut verboten war), aber doch kein Grund, so alle Fassung zu verlieren. Und was fiel mir eigentlich ein, dachte ich bekümmert, bei meiner Tochter, die ich doch wirklich liebte, derart dreinzufahren, während ich mit verdammter Engelsgeduld von Tag zu Tag die Launen meiner Vorgesetzten und Ressort-Chefin ertrug, die einen heute zur Schnecke machte, um einen am nächsten Tag mit klebriger Vertraulichkeit in die intimsten Details ihres verfahrenen und gänzlich uninteressanten Privatlebens als Busenfreundin einzuweihen. Eine Liebhaberin von Agentenromanen, vor allem von amerikanischer Literatur, hatte sie neulich einen ganzen Zeitungsartikel geschrieben über die schönsten Bett- und Beischlafszenen bei Updike. Und dabei das Lamento wegen dem Geld, und daß sie sich keine echten Designerklamotten kaufen könne bei dem miesen Gehalt.
Ein Züricher Sommer voller Entdeckungen - die weit zurückreichen in Europas finsterste Zeit.